Swami Omkarananda
Der Weg des Gottsuchenden
INHALT
Swami Omkarananda: DER WEG d e s GOTTSUCHENDEN
Ego - Individualität und der Bezug zum Göttlichen
I. Ego - Individualität
Gott mit Ego ist menschlich, der Mensch ohne Ego ist göttlich
Sinn und Wert des Aufgebens des Ego
Über das Wesen der Individualität
Seele und göttlicher Geist
Wege zur Überwindung des Ego
II. Wege zur Gotterkenntnis
Menschliche Höherentwicklung setzt Umwandlung voraus
Verschiedene Techniken und Methoden des geistig Strebenden
Die Vorstellungskraft als Hilfsmittel auf dem geistigen Weg
Kriterien, Widerstände und Fortschritte auf dem Weg zur Gotterkenntnis
Der geistige Mensch in der Meditation
III. Der Sehende in uns
Über die Gedanken
Das göttliche Bewusstsein, oder der alles Wahrnehmende
Das Wesen des Sehenden
Empirisches und transzendentales Bewusstsein
Schlusswort
***
I. EGO - INDIVIDUALITÄT
Gott mit Ego ist menschlich,
der Mensch ohne Ego ist göttlich
Das Ego, von dem hier die Rede ist, ist das Sterbliche, Begrenzende in
uns, das persönliche Ich. Es ist ein gefährliches Element in
der menschlichen Konstitution, denn es ist die Quelle der Unwissenheit,
des geistigen Unverständnisses über Gott und unser
eigentliches wesentliches Sein, über die allem zugrunde liegende
Wahrheit. Es ist die Ursache aller menschlichen Begrenzungen, aller
Wünsche und Ängste, die Ursache von Leidenschaften und
tausend anderen Dingen, die uns vom Göttlichen trennen.
Dieses persönliche Ego nimmt die Gestalt eines sich selbst
absondernden Prinzips, einer trennenden Kraft an. Die Skala der
tausendfachen Formen des Egos reicht vom Stolz auf die eigene
äusserliche Schönheit und Gestalt, über den materiellen
Besitz, bis hin zum Minderwertigkeitskomplex oder zum Ressentiment
gegenüber denen, die es im Leben weitergebracht haben.
Angenommen, das Ego wäre nicht vorhanden, was ist dann die wahre
Natur des Menschen? Man würde sich eins fühlen mit dem ganzen
All, mit allen seinen Wesenheiten; man wäre allvollkommen, ohne
Wunsch und ohne Furcht - weder vor dem Bösen noch vor Geistern,
Engeln oder schlechten Menschen - weil man sich eins weiss mit der
göttlichen Wirklichkeit, dem ewigen "Ich Bin". Sobald aber das Ego
ins Spiel kommt, wird man zur abgetrennten persönlichen Einheit.
Ein ständiger Streit findet statt zwischen dieser funktionalen,
künstlichen Struktur unserer persönlichen Selbstheit, die wir
als getrennt erleben von allem und allen anderen einerseits - und dem
Erfahrungsbereich und der Umwelt andererseits. Dieses ist der Ursprung
von allem menschlichen Unglück, von Leiden, Problemen,
Irrtümern und Begrenzungen.
Wie aber überwinden wir das Ego, das persönliche "Ich"?
-Dadurch, dass wir uns nicht mit diesem vergänglichen Ego
identifizieren, ihm nicht erlauben, unsere Persönlichkeit und
unser Bewusstsein zu durchdringen. Das reinigende Feuer, welches das
Ego verzehrt, ist das Wissen um das Göttliche in uns als unserer
wahren Wesenheit. Sobald sich das Ego in uns erhebt, uns alle Arten von
Unterschieden zeigt, Grenzen errichtet, zu Missklang und Unrechttun
verleitet oder irgendwelche negativen Gefühlsregungen hervorruft,
sollten wir sofort auf unser inneres geistiges Erkennen umschalten und
es in Tätigkeit setzen, es uns ganz klar ins Bewusstsein rufen.
Und was ist dieses? Unser tiefstes geistiges Wesen sagt uns, dass das
innerste Sein in allen Wesen und in allen Dingen das Gleiche ist wie in
uns selbst. Darum besteht im eigentlichen Sinn kein Unterschied
zwischen Dir und anderen.
Erlerne die Kunst, Dein Bewusstsein von der äusseren
Persönlichkeit zurückzuziehen, wenn immer eine Kränkung
auf Dich zukommt, dann wirst Du nicht länger davon betroffen sein.
- Ein anderer Weg, der zur Überwindung des persönlichen Egos
und zur Entfaltung von Selbstlosigkeit und
Unterscheidungsfähigkeit führt, ist: jedesmal, wenn unser
altes Ego uns suggerieren will, wir seien die und die Person, sollten
wir ihm sofort mit der Feststellung begegnen: "Ich bin ein Licht im
Lichte des Göttlichen. Ich bin zeitlos, raumlos, formlos, namenlos
und bin daher über alles erhaben, wovon zeitunterworfene, in sich
begrenzte Wesen betroffen sind.
Ein weiterer Weg, der uns aus den Begrenzungen des Egos
herausführt, ist, sich stets bewusst zu sein, dass es das
Göttliche ist, das durch uns wirkt. Anstatt zu sagen: "Ich habe
das getan", wollen wir in unserem Herzen sagen: "Gott hat dieses durch
mich getan; Er ist der Wirkende, der Vollbringer. All meine Kraft ist
von Gott, meine Energie und Intelligenz kommen aus dem
Göttlichen." - Wenn man hingegen sich auf den egoistischen
Standpunkt stellt und behauptet, alle Kraft und Fähigkeiten
kämen aus einem selbst, wird man grossen Schwierigkeiten,
Versuchungen und Fehlschlägen ausgesetzt sein.
Dein Wille wird allmächtig, wenn Du Dein kleines Ich völlig
dem Göttlichen hingibst; Dein Geist wird allwissend, wenn Du ihn
ganz vom Göttlichen durchdringen lässt-, Dein ganzes Leben
wird göttlich, wenn Du es dem Schöpfer überantwortest.
Alle Deine Arbeiten und Unternehmungen werden erfolgreich sein und
beste Resultate zeitigen, wenn Du sie Gott darbringst und sie in dem
Bewusstsein ausführst, dass es Gott ist, der durch Dich wirkt. -
Dieses ist die grossartige Methode, die nicht nur den mächtigen
Feind in uns, das Ego, besiegt, sondern durch die wir gleichzeitig die
göttliche Vollkommenheit erreichen können.
Sinn und Wert des Aufgebens des Egos
Was verliert das Wasser im Becher, wenn es ins Meer
geschüttet wird und sich dem Meer überantwortet.? Indem es
seinen isolierten und damit begrenzten Zustand aufgibt, verliert es
nichts ausser der Möglichkeit des Vertrocknens, des Verdunstens,
der Fäulnis. Indem es sein ganzes Sein dem Meer übergibt,
wird es unsterblich und ewig. Die Meere waren vor Jahrtausenden und
werden noch nach Jahrtausenden sein. Durch diesen Akt der Hingabe an
das Meer ist es zum Erben des Meeres geworden, hat es die
Unsterblichkeit des Meeres erlangt.
Nehmen wir ein Stück Holz und werfen es ins Meer. Geht es im Meer
auf wie das Wasser im Becher? Nein, das Stück Holz übergibt
seine persönliche Eigenart nicht dem Meer, gibt nicht sein ganzes
Sein dem Meer hin, denn es ist noch stark in seinem Ego verwurzelt, in
seiner persönlichen Individualität, und es kann daher nicht
voll und ganz ins Meer eingehen. Was ist die Folge davon? Das Holz wird
von den Wellen nach allen Seiten herumgestossen.
Wenn der Mensch sein Ego und seine Individualität der Allmacht
Gottes anheimstellt, dem unbegrenzten Meer der göttlichen
Gegenwart - was geschieht dann? Sein Leben wird eins mit dem
Königreich Gottes. Er erlangt ewiges Leben. Er ist im Einklang mit
der Macht und Schönheit, dem Frieden und der Freude Gottes. Wie
auch die äusseren Umstände und Umweltbedingungen sein
mögen - er ist im Königreich Gottes, frei vom Ich, frei von
menschlichen Schwächen, und er ist sich der
Unvergänglichkeit, der Vollkommenheiten und der Kräfte Gottes
voll bewusst. So wie der Tropfen, der ins Meer geworfen wird, alle
seine Ängste verliert und die Grenzenlosigkeit, die
Furchtlosigkeit, Schönheit, Majestät, Grösse und Macht
des Meeres annimmt, so muss sich der Mensch in seinem innersten Wesen
in die göttliche Gegenwart hineinfallen lassen und sich der
Wahrheit vermählen; dann erst verliert er alle seine
Schwächen. Dann wird er göttlich und erlangt unbegrenzte
Freude, Erkenntnis, Frieden, Kraft und Stärke.
Wenn wir keine Begrenzungen hätten, wäre dann überhaupt
noch Individualität vorhanden? Individualität wäre zwar
immer noch vorhanden, doch würde es sich in diesem Fall um eine
göttliche Individualität handeln, die frei von unserem groben
Egoismus und ohne menschlichen Stolz ist.
Das menschliche Denken ist nicht in der Lage, diese göttliche
Wahrheit zu verstehen und ist darum ängstlich besorgt und sagt:
"Was aber geschieht, wenn dieser Tropfen meiner Seele in das Meer
fällt? Habe ich dann nicht alle Kontur verloren? Werde ich dann
keine Individualität mehr haben? Werde ich dann völlig
aufhören zu sein? " - Das ist eine blosse menschliche Furcht, eine
Einbildung des menschlichen Geistes. In Wirklichkeit hat man eine weit
grössere Individualität gewonnen, doch ist es eine
Individualität, der die Vereinzelung genommen ist, denn diese
Individualität ist völlig ohne Grenzen.
Über das Wesen der Individualität
Die Frage ist: Wünscht der Mensch
überhaupt die geistige Freiheit, die aus der Auflösung des
persönlichen Ego erwächst? Dass er sie meist nicht will,
geschieht aus reiner Unwissenheit, aus grobem Missverständnis
über seine eigentliche Identität. Er klammert sich an seine
vergängliche Individualität.
Solange diese vergängliche Individualität, oder Ego,
andauert, begeht der Mensch Fehler, ist er begrenzt in seiner
Erkenntnis, in seiner Liebe, in seiner Güte und ist dem Tode
unterworfen, der immerwährenden Veränderung ausgesetzt. - Man
kann nicht auf das bauen, was dem Wandel unterworfen ist. Heute kann
jemand ganz besonders gut sein und morgen schon nicht mehr. Es
lässt sich nie voraussagen, was im menschlichen Bereich geschehen
wird, denn alles in ihm hat seine Grenzen und ist unzulänglich.
Darum muss die alte, an die Persönlichkeit gebundene
Individualität aufgelöst werden. Solange wir einen physischen
Körper besitzen und auf Erden leben, ist immer Individualität
vorhanden. Wenn die alte Individualität voller Unreinheiten und
Begrenzungen aufgelöst ist, bildet sich sogleich eine
göttliche Individualität. Diese Individualität, die wir
dann darstellen, ist derartig subtil, so unangreifbar fein, dass sie
nur mehr die Vorstellung von Individualität ist.
Die Individualität als solche bleibt immer bestehen. Sind aber die
Gedanken stets auf das Göttliche bezogen, dann wird damit auch die
Individualität vergeistigt und vergöttlicht. Man könnte
auch sagen: eine neue Individualität sei geboren worden. In diese
geistige Neugeburt eingeschlossen sind Denken und Fühlen, die
gesamte menschliche Persönlichkeit.
Eine Form von Ich-Bewusstsein, als Auftriebskraft, muss jedoch
vorhanden sein, um etwas vollbringen zu können. Dabei braucht
dieses Ego nicht der normale egoistische Stolz zu sein; es kann auch
das zur aktiven Ausführung einer Arbeit benötigte "Rest-Ich"
einer über persönliche Ziele hinauswachsenden Grösse
sein, die sich von überpersönlichen Zielen und
Grundsätzen leiten lässt, die weit über allen
persönlichen Erwägungen stehen. Für tatkräftiges
Wirken in der Welt ist Individualität notwendig. Doch sind viel
wunderbarere Werke und beständigere Werte von denen geschaffen
worden, die frei sind von einem ausgeprägten Sinn ihres Ego, des
eigenen kleinen Selbst.
Selbstlosigkeit, Fehlen des Ego, setzt in Dir gewaltige Kräfte und
Energien frei. Du wirst Deine Arbeit hervorragend und mit besten
Ergebnissen verrichten, wenn Du weisst, es ist nicht das kleine
vergängliche Ich, das die Arbeit tut, sondern es ist Gott, der
durch Dich wirkt. Und Du weisst auch, dass Gottes Kraft grenzenlos ist
und Er daher unermüdlich und hervorragend durch Dich schafft. In
der Selbstlosigkeit haben wir grössere
Reinheit, die wiederum zu grösserer Kraft führt und in sich
die göttliche Gnade birgt, die uns unsterbliche Werke vollbringen
lässt. - Wollen wir hierbei einmal an Beethoven denken. Wenn er
sich ständig seiner Person bewusst gewesen wäre, die zahllose
Bewunderer hat, wären seine musikalischen Leistungen dann so
hervorragend gewesen? Das Aussergewöhnliche und Unsterbliche
seiner Musik beruht auf seiner völligen Selbstvergessenheit. Wenn
er seine Symphonien komponiert, ist sein Ego gänzlich
ausgeschaltet-, er ist dann kein persönlicher Jemand, sondern
einzig und allein ein Instrument des Lichts, der Gnade und der
Schönheit des Göttlichen, durch welches das Unendliche sich
zum Ausdruck bringt. Ein egoistischer Musiker kann niemals ein grosser
Musiker sein. Alle wahre Grösse des Menschen schliesst in sich die
restlose Übergabe des kleinen Ich an das grössere Selbst und
ein Äusserstes an Selbstlosigkeit ein.
Ego, Individualität ist das Gegenteil von Universalität,
Zeitlosigkeit, Grenzenlosigkeit - von dem, was göttlich ist. Darum
lasse Dich nicht von Deiner Persönlichkeit, Deinem Ego, Deiner
Individualität leiten, sondern lasse die Hingabe an das
Göttliche das Werk tun; lass den Glauben in Dir Ausdruck gewinnen
und lass Dich nicht von Deinen Zweifeln und Befürchtungen leiten.
Glaube, Liebe, Hingabe an Gott - alles dies ist zeitlos und universell.
Durch diese Kräfte sollten wir unser Werk tun. Es liegt an uns,
das vorhandene Ich-Bewusstsein für unsere Tätigkeiten
sinnvoll einzusetzen, es zu verfeinern und zu sublimieren.
Es gibt allerdings Ausnahmen, in welchen die Arbeit allein durch
selbstlose Liebe zum Göttlichen vorangeht. In solchen Fällen
ersetzt Gott oder die göttliche Kraft, die Tätigkeit der
Person durch seine eigene Tätigkeit. Dieser Zustand kann durch
fortgesetzte Wachsamkeit und das ständige Bemühen, das Ego
auszuschalten, erreicht werden. Ein solcher Zustand ist ein klares
Zeichen der göttlichen Gnade und setzt einen hohen geistigen
Entwicklungsstand voraus.
Seele und göttlicher Geist
Was ist der Unterschied zwischen der Seele und dem göttlichen Geist im Menschen?
Der Geist in uns ist Gott, ist göttliches Bewusstsein, ist der
Heilige Geist, ist Gottes Gegenwart in uns. Die individuelle Seele ist
jener Aspekt des Göttlichen in uns, der die gesamte seelische
Struktur, psychologische Erfahrungen, Unterbewusstsein, empirisches
Bewusstsein und Gedächtnis umfasst.
Alle Eindrücke und Erfahrungen aus früheren Leben und aus
diesem Leben, die Wirkungen vergangener Gedanken und Taten - all dieses
ist eingebettet in die Seele. - Der Geist, der reine göttliche
Geist im Menschen, ist von der Seele verschieden und steht über
der Seele. Er ist immer und überall in Verbindung mit dem
All-Göttlichen.
Diese Konzeption ist die Form von Vorstellung, die dem Menschen, der in
einem physischen Körper und in einem physischen Universum weilt,
zugänglich ist. Wenn man Laute oder Farben wahrnehmen will, muss
man die entsprechenden physischen Wahrnehmungsorgane besitzen,
nämlich Körper, Gehirn und Empfindungen, die im Physischen
wurzeln. Die Seele, die dem Körper innewohnt, erfährt diese
Dinge der Aussenwelt nicht direkt, sondern vermittels des Körpers.
Darum dominiert in diesem Fall der Körper, weil wir in einer
physischen Welt, in der Welt der Materie leben. Wenn wir durch den Tod
von diesem Körper befreit sind, erhebt sich der feinere Teil
unseres Wesens in höhere Sphären und projiziert feinere,
subtilere Sinne. Und wenn wir dermaleinst selbst von dieser Hülle'
befreit sind, ist unsere Wesenheit ganz Geist, voller Licht und
Bewusstsein und erkennt und erfährt dann unmittelbar -ohne
jegliche andere Vermittlung - die Herrlichkeit des Göttlichen.
Solcherart ist unsere Seele: sie stirbt niemals, doch kann sie
umgewandelt, transformiert werden, sie kann sich mit dem
Göttlichen vereinen. Und Gott ist All-Reinheit. Alle Gedanken,
Gefühle und jegliches Karma kommen in der Gegenwart Gottes und in
der Vereinigung mit Ihm zum Erlöschen.
Vor der Vereinigung mit dem Göttlichen ist die Seele von Gedanken,
Gefühlen, Begrenzungen, Leiden, Unwissenheit, Irrtum umgeben und
unterliegt den Gesetzen des Karma. Das Licht in der Seele, das aus dem
Göttlichen stammt, geht wieder ins Göttliche ein. Der Prozess
der Transformation und Läuterung der Seele findet sein Ende, wenn
alle menschlichen Einengungen und Begrenzungen abfallen, vom
läuternden göttlichen Feuer verzehrt werden und die Seele von
allem Erdverhaftetsein gereinigt und in Licht, Liebe, Erkennen
umgewandelt ist. Dann geht das Licht der Seele in das unendliche
göttliche Licht, in das Höhere Selbst in uns ein.
Die Seele umfasst die ganze Persönlichkeit, die Gesamtheit der
Individualität und das Ego. Der Körper ist eine blosse
Hülle. Es ist also die Seele, die hinter dem kleinen
persönlichen Ich steht. Doch steht sie zugleich auch in Verbindung
mit dem Göttlichen. Es ist die Seele, die in vielen Leben
wiederverkörpert wird.
Die einzelnen Seelen befinden sich auf unterschiedlicher
Entwicklungsstufe und entfalten sich in unterschiedlichem Grade. Sie
sind verschiedenen Ursprungs und gehören unterschiedlichen
Altersstufen an. Manche Seelen sind erst 100 Jahre alt, manche bereits
über 1000 Jahre, und andere wiederum sind schon Millionen Jahre
alt. Daraus resultiert der unterschiedliche Stand ihrer geistigen
Entwicklung und ihr Karma. Der Schöpfer hat nicht erschaffen, was
im Menschen fehlerhaft und unzulänglich ist. Jegliche Begrenzungen
entspringen der Unwissenheit des Menschen darüber, dass er im
Grunde seines Wesens eins ist mit dem Göttlichen.
Wenn die Seele mit dem Alles-Sehenden eins wird, löst sie sich
dann in ein Nichts auf? Im Eingehen in das Göttliche fallen alle
Trennwände und Begrenzungen der Seele. - Wenn man sich mit aller
Ausschliesslichkeit auf den Mond konzentriert, seinen Blick starr auf
den Mond geheftet hält, nichts ausserhalb des Mondes wahrnimmt, so
vollständig in Wesen und Erscheinung des Mondes absorbiert ist,
dass man seines Körpers nicht mehr gewahr ist, ja nicht einmal
merkt, dass man sich im Zustand der Konzentration auf den Mond befindet
- dann wird man zum Teil des Mondes, und der Mond wird zum Teil des
Meditierenden. Er beherrscht völlig das Vorstellungsvermögen,
die Gefühle und Erlebnisse des Meditierenden.
Ebenso verhält es sich mit der Seele; sie wird zum Teil des
Sehenden, des göttlichen Selbst im Menschen, so wie der Sehende
ein Teil der Seele wird. Die Seele wird dann von all ihren Begrenzungen
befreit und wird eins mit dem Sehenden. -Nach der Vereinigung mit dem
Allsehenden kann die Seele wieder zum Individuum werden, das auf der
irdischen Ebene seinen Aufgaben und Tätigkeiten nachgeht. Die
Seele kann wieder eine Individualität annehmen und die Welt der
Materie erfahren; sie wird dann in der körperhaften Welt die
Grösse und Herrlichkeit, das Licht und den Frieden des unsterblich
Sehenden, die Glückseligkeit des Sehenden widerspiegeln. Das ist
es, was jeder geistig Strebende zu erlangen bemüht sein soll, das
ist es, was von ihm erwartet wird, worauf er immer wieder hingewiesen
wird und wofür er bestimmt ist. Dass es diesen Zustand der
Vereinigung mit dem allmächtig Sehenden gibt, ist Grund genug,
danach zu streben. Sobald der geistig Strebende diesen Zustand erreicht
hat, ist in ihm die Fülle des Wissens und Erkennens, und er ist
imstande, dieses den anderen zu erklären und sie nach sich zu
ziehen.
Während des Zustandes der Gotterfahrung ist die Seele sich ihrer
eigenen individuellen Wesenheit und ihrer Begrenzungen nicht bewusst.
Sie erlebt sich als unsterbliche göttliche Individualität. -
Das ist der Weg der menschlichen Seele von begrenzter, ich-bezogener
Individualität zu unendlicher göttlicher Individualität.
Nachdem der Zustand der Gotterfahrung einmal erreicht worden ist, ist
der Mensch frei vom Gesetz des Karma, weder kann er - trotz des Lebens
in irdischen Begrenzungen - Karma schaffen noch hat er Karma
abzutragen. Nach aussen hin erscheint ein solcher Mensch genau wie die
Durchschnittsmenschen in Begrenzungen eingefangen; doch engen ihn diese
scheinbaren Begrenzungen nicht mehr ein, er ist ihnen nicht länger
unterworfen, wie der gewöhnliche Durchschnittsmensch es ist, denn
er lebt unablässig in dem Wissen um das Einssein mit dem
Höchsten und in der inneren Glückseligkeit.
Wege zur Überwindung des Egos
Das Ego wird überwunden und aufgelöst
durch Weisheit, Demut und die innere Einsicht, dass allein in und durch
Gott alles existiert, dass ER der wahre Erschaffende und Besitzer allen
Reichtums und alles Existierenden ist. - Jemand mag ein grosser
Schriftsteller sein. Woher stammt seine Intelligenz, woher kommen seine
Einfälle? Wie kam er zu dem Stoff und zu den Umständen, die
die Herausgabe seines Buches ermöglichten? Durch sein inneres
Bewusstsein. Und wer erschuf dieses Bewusstsein und erhält es
ständig? Zu wem gehört also dieses Bewusstsein? Es ist Gott
oder das Höchste Prinzip oder die letztgültige Wirklichkeit,
der wahre Seinsgrund alles Bestehenden, wie immer man es nennen mag. -
Wo bleibt da noch der Stolz des Ego?
Das persönliche Ich verschwindet, wenn das innere Wissen um Gott
unablässig wächst-, wenn die Erfahrung des Göttlichen
alles andere beherrscht; wenn Gottes alleinige Führung in unserem
Leben voll und ganz akzeptiert wird. Bis dahin muss man warten - bis
das persönliche Ich ganz aufgelöst ist. Es wird bis zur
letzten Sekunde versuchen, sich in den geistigen Wachstumsprozess
einzuschalten. Doch in dem Masse, in dem wir an Güte, Liebe zum
Göttlichen und Wissen um das Göttliche zunehmen, wird das Ego
schwächer und schwächer.
Doch wehrt es sich dagegen zu sterben und wird uns bis zuletzt
zusetzen. Erst wenn unser ganzes Sein ins Gottbewusstsein eingeht,
stirbt das Ego ab, denn dann ist ihm der Grund entzogen. Doch bis zu
diesem Zeitpunkt wird es uns auf die eine oder andere Weise
ständig zusetzen.
Auf der fortgeschrittenen Stufe unserer Entwicklung wird das
persönliche Ich schwächer und schwächer, doch
gleichzeitig nimmt es einen mehr verschlagenen Charakter an, weil es
spürt, dass es abgetötet werden soll. Darum zeigt es sich in
der Verkleidung des Göttlichen, in der Form von Güte, es
zitiert Aussagen der Heiligen Schrift, es versucht Unheil zu stiften
und uns zu täuschen. Wenn zum Beispiel jemand sagt, dass er alle
seine Kräfte und Energien und alles, was er hat, der Arbeit
für ein göttliches Werk hingegeben hat und diese Arbeit
wunderbar vorangeht - dann liegt in solch einer Aussage keine
Verherrlichung Gottes, sondern er glorifiziert damit sein Ego. Denn
wenn er weiss, dass die Arbeit für das Göttliche gute
Fortschritte macht und Gott ihm die Möglichkeit gegeben hat, dabei
mitzuwirken - warum noch darüber sprechen? Warum noch darüber
schreiben oder sich in irgendeiner Form dazu äussern? Während
er dieses tut, gibt er sich auch noch der täuschenden Vorstellung
hin, Gott damit zu verherrlichen. Auch wenn ein Heiliger ihn darauf
aufmerksam macht, dass er auf dem falschen Wege ist, dann erhebt sich
wiederum das Ego in dem Betreffenden, wenn er sich verteidigt und sagt:
"0 nein, ich bin mir keines persönlichen Egos mehr bewusst, mein
Ego ist bereits aufgelöst; alles, was ich tue und sage, dient der
Verherrlichung des Göttlichen."
Um auch den subtilsten Verführungen unseres Ego zu entgehen,
sollten wir in solch einem Fall lediglich konstatieren: die Arbeit am
göttlichen Werk macht gute Fortschritte. Weder sollte sich unser
Ego mit dieser erfolgreichen Arbeit identifizieren noch sollten wir ihm
erlauben zu sagen: ich bin es, der diese Arbeit tut. In solch einem
Augenblick sollten wir es sofort ersticken. - Das sind die teuflischen
Ränke des Ego, des kleinen persönlichen Ich. So lernen wir
verstehen, wie das Ego selbst in unser Tun für das Göttliche
einzudringen versucht. Es ist von hinterhältiger Natur und hat
viele Gesichter, findet viele Wege.
In allen ethischen Handlungen ist Ego enthalten, in allen moralischen
Taten ist Ego vorhanden. Darum sind moralische Taten allein nicht
genügend. Sie bilden jedoch ein notwendiges Übergangsstadium,
eine Wachstumsbedingung. Allmählich sollte man aber das Ego
ausmerzen, damit allein das Göttliche durch uns arbeiten kann.
Unser ungeteiltes Interesse sollte um das Göttliche kreisen.
Wichtig ist, dass wir die ethische Tat nicht als Selbstzweck
betrachten, als letztes Ziel dieses Lebens. Wenn immer wir Gutes tun
für andere, sollten wir in erster Linie uns des Göttlichen
bewusst sein-, dann wird unser Tun mehr als nur eine ethische Handlung,
dann wird es eine Gott geweihte Handlung sein. Das Ego erstirbt in
solchem Tun, während es im ethischen Handeln noch lebendig ist. Im
geistigen, Gott geweihten Handeln wirkt allein das Göttliche.
Es gibt das niedere Selbst oder Ego, und es gibt das göttliche
Selbst. Zwischen beiden gähnt ein tiefer Abgrund. Wie kann dieser
Abgrund überbrückt werden? Wenn das Ego des Menschen viel zu
erdulden hat, wenn es viel über seine eigene Natur nachdenkt und
höhere Einsichten gewinnt, beginnt es zu verstehen, dass es sich
im Grunde in einer recht unglücklichen Position befindet: dass es
jederzeit Krankheiten, Tod, Leiden und Sorgen ausgeliefert ist, dass
seine Pläne sich nicht immer verwirklichen, dass sein Leben in
jeder Hinsicht begrenzt und unzulänglich ist. Nach solchen
Betrachtungen mag der Mensch sich sagen: ich will nach etwas Ausschau
halten, das vollkommen ist.
Damit beginnt in ihm die Idee des göttlichen Selbst zu
dämmern. Ernsthaftes Streben nach dem neuen Ziel, Glaube und
Hingabe entstehen und wachsen in ihm unablässig. Damit wird die
Kluft zwischen den beiden Formen des Selbst immer geringer, bis
schliesslich der Schleier zerreisst, der ihn von seinem göttlichen
Selbst trennt.
Der Weg zu Gott besteht in der Entfaltung immer grösserer Liebe,
Güte und grösseren Edelmutes, in der Entwicklung der inneren
Erkenntnis und des Bewusstseins der göttlichen Gegenwart und Kraft
in uns und um uns herum.
Das Leben wird zu einem einzigen Gesang der Freude, wenn man in
ständiger Verbindung mit dem Göttlichen lebt und daraus
Kraft, Frieden und Glück empfängt.
Swami Omkarananda
II. WEGE ZUR GOTTERKENNTNIS
Menschliche Höherentwicklung
setzt Umwandlung voraus
Auf der menschlichen Stufe ist die Evolution innerlich. Sie vollzieht
sich auf der psychologischen und geistigen Ebene. Als Teil der Natur
hat der Mensch aufgehört, sich höher zu entwickeln. Die
biologische, funktionale Entwicklung ist im Wesentlichen abgeschlossen,
oder sie hat doch zumindest keine Bedeutung für den
Einzelmenschen. Auf der Ebene des Menschen hat die Evolution eine
geistige Wende genommen. Sie ist zur Entwicklung der Herzens- und
Geisteskräfte geworden. Es gilt, das Bewusstsein Gottes, das als
Bild Gottes in uns gelegt ist, aus uns zu entfalten.
In der Natur, auf biologischer Ebene, geht die Höherentwicklung
mit Hilfe der strukturellen Entfaltung der äusseren Form
vonstatten. Auf der Ebene der Menschheit ist es eine geistige
Entfaltung, keine Strukturveränderung mehr im äusseren
Bereich. Biologisch haben wir aufgehört, den körperlichen
Mechanismus zu vervollkommnen. Die Evolution muss im Geist, in der
inneren Wahrnehmung, in der Intelligenz, in den Kräften des
Herzens, des moralischen Charakters und des inneren Wesens
vorangetrieben werden. Es geht um die Entfaltung der Fähigkeit,
innerlich in der höchsten Vollkommenheit zu sein, während man
noch im Körper weilt. Wir wollen umgewandelt werden, denn nur das
Göttliche in uns kann das Göttliche überall erleben.
Umwandlung und Sublimierung des eigenen Wesens sind die bestimmenden
Kriterien für den Fortschritt auf dem geistigen Weg der
Erleuchtung.
Weil das innere Licht stark und hell ist, durchdringt es auch die
Intelligenz des geistig Strebenden mit Schärfe und Klarsicht und
versetzt ihn in die Lage, den eigentlichen Kern jeglicher Schwierigkeit
zu erkennen und zu überwinden. Er ist imstande zu unterscheiden,
was seiner geistigen Entwicklung förderlich und was ihr hinderlich
ist und wie er die Hindernisse beseitigt.
Jeder erhabene Gedanke der Liebe zum Göttlichen dient dem Prozess
der Umwandlung. Je mehr der Geist in Ruhe und Harmonie eingebettet und
veredelt ist, um so grösser ist die Umwandlung der inneren
menschlichen Natur. Selbstanalyse, zum Zweck des Entdeckens und
Überwindens der eigenen Fehler, ist ebenfalls eine grosse Hilfe
bei der Umwandlung des inneren Wesens. Je mehr die innere Natur
verfeinert und geläutert ist, je lichter und veredelter sie ist,
um so stärker kommen Frieden und Freude, inneres Licht, Reinheit
und Weisheit zum Ausdruck.
Was sind nun die Unreinheiten, von denen die menschliche Natur
gereinigt werden muss, um nach beendeter Läuterung für das
Empfangen des göttlichen Lichtes bereit zu sein? -Unreinheiten
sind Regungen des Gefühls, der Gedanken, der Intelligenz, des
Willens und der menschlichen Natur, die sich in der verkehrten Richtung
bewegen, das heisst, nicht aufstrebend auf das Göttliche
ausgerichtet sind, sondern in die irdischen Bereiche herabziehen. Wo
die Läuterung des Menschen schon weit vorangeschritten ist, wird
alles in ihm und um ihn herum licht: das Antlitz des Göttlichen -
in welcher Form er immer es sich vorstellen mag - wird deutlich
sichtbar und beherrscht seine innere Vorstellung gänzlich. Dieses
trägt ferner bei zum Läuterungsprozess und zur Durchdringung
der inneren Natur mit dem Göttlichen. Neid, Eifersucht, Abneigung,
Zorn, Unbeherrschtheit - alles dieses sind die Kräfte, die das
innere Licht der Seele trüben. Im gleichen Augenblick, in dem eine
niedere Gefühlsregung aufkommt, muss sie durch eine gute, positive
ersetzt werden. Sofern Eifersucht oder Neid aufkommen, sollte sofort
der Person, der sie gelten, im Geiste eine wunderbare Gabe dargebracht
werden und man sollte zugleich das Göttliche in ihr sehen und
verehren. Solange der Mensch auf niederer Ebene nicht dazu imstande
ist, wird er diese Fehler nicht überwinden.
Bei dem Prozess der menschlichen Umwandlung und Sublimierung spielt die
Anrufung Gottes eine wichtige Rolle. Durch die ständige
Wiederholung des göttlichen Namens, entweder im Geiste oder
mündlich, wird die innere Natur des Menschen gereinigt und
geläutert und wird damit viel empfänglicher für das
göttliche Licht.
Der Weg zur Gotterfahrung besteht im ständigen Wachsen jener
Fähigkeiten, mit denen Gott uns von Anfang an begnadet hat. Alle
diese Fähigkeiten und Eigenschaften entstammen dem göttlichen
Bewusstsein; sie sind nicht ein Erbteil unserer Vorfahren, sondern
kommen aus der Widerspiegelung Gottes in uns.
Die Frage ist: wie können wir zur Gotterfahrung gelangen, oder:
wie können wir das höchste göttliche Bewusstsein, das
verborgen in uns liegt, erwecken? - Vielerlei Methoden gibt es, solche
des Herzens, solche des denkenden Geistes, solche des Dienens und
einfachen Lebens, Methoden der Meditation und der Disziplinierung des
Geistes, Methoden, bei denen die Entwicklung des göttlichen Wesens
und die Entfaltung aller guten Eigenschaften und Fähigkeiten
gefördert werden, Methoden, bei denen Intelligenz und
Herzensliebe, sowie feinere Wahrnehmungs- und Empfindungskräfte
zur Entfaltung kommen. Aus diesem inneren Reifen erwächst ein
tieferes Wissen um die höheren Wirklichkeiten, ein
grosszügigerer Standpunkt dem Leben gegenüber, eine
umfassendere Schau, verglichen mit der des Durchschnittsmenschen. Haben
wir diese Stufe erreicht, dann schreiten wir unaufhörlich
vorwärts in Wachstum und Aufwärtsentwicklung. Neue
Kräfte wachsen uns zu, wie Glauben, Weisheit und direktes Erkennen
des Wesens aller Dinge. - Zur Erläuterung des letzteren sei
folgendes Beispiel gegeben: Wenn ein kleines Kind nach einem Gegenstand
strebt, weiss die Mutter auch ohne direkte Mitteilung, was das Kind
haben will. Wie kommt es, dass sie es sogleich weiss? Sie weiss es
durch Identifizierung mit dem Kind und seinen Wünschen, durch
Reflektion über ihre eigenen Kindheitserfahrungen, durch Vergleich
mit dem Wesen und Verhalten anderer Kinder. Auf ähnliche Weise,
ebenfalls intuitiv, entfalten sich im geistig Strebenden auf seinem Weg
des Wachstums weitere Kräfte und Eigenschaften. Wer von Natur aus
edel ist, wird immer mehr durchgeistigt und empfindsamer gegenüber
höheren Dingen. Wessen Herz voller Liebe ist, wo die Kräfte
des Hasses und der Abneigung stark vermindert sind, der wächst in
Reinheit und innerer Helligkeit.
Hinter jeder Offenbarungsform, hinter allem, was im Universum
manifestiert ist, steht eine schöpferische Kraft, ein
höchstes Bewusstsein. Dieses verleiht der Energie erst Ziel und
Wirkkraft und tritt auch als Gesetz und Ordnung in Erscheinung. Dieses
Prinzip ist als latentes geistiges Bewusstsein in jedem von uns
vorhanden. Es ist das Prinzip des göttlichen Geistes, ein
göttliches Bewusstsein, das von unserem empirischen Bewusstsein,
vom Unterbewusstsein und vom Unbewussten gänzlich verschieden ist.
Es gibt keine Alternative zur natürlichen, organisch wachsenden
Entwicklung auf dem geistig-spirituellen Pfad. Man kann sie allerdings
beschleunigen und bereichern, indem man den Weg der Meister geht, den
Weg Christi und der Heiligen. Doch besteht die natürliche
Entwicklung immer in der Entfaltung von Liebe, Dienstbereitschaft,
Weisheit, Glauben und Gotterkenntnis. Es liegt an uns, in welchem Masse
wir diese Eigenschaften entfalten.
Unsere Hingabe an Gott soll grösser und grösser werden, so
wie auch unsere Bereitschaft, für Gott Opfer zu bringen. Er kommt
uns mit Seiner Gnade in dem Masse entgegen, als wir bereit sind,
Mühen auf uns zu nehmen. Die Umstände und Aufgaben in unserem
Leben sind dazu da, dass wir an ihnen wachsen, nicht damit wir an ihnen
zerbrechen.
Auch Herausforderungen und Anforderungen sind Zeichen der Gnade. Man
sollte den Fortschritt nicht allein an den sichtbaren Ergebnissen
messen, sondern auch an den Rückschlägen, die eine bestimmte
Aufgabe in dem gesamten Plan zu erfüllen haben, indem sie den
erreichten Fortschritt konsolidieren und uns Gelegenheit geben zu
erwerben, was uns noch fehlt.
Verschiedene Techniken und
Methoden des geistig Strebenden
Alles was auf einer niedrigen Ebene liegt, kann durch geistiges Streben
auf eine höhere Ebene hinaufverwandelt, in Höheres
umgewandelt werden. Alles Empirische und Phänomenale kann auf das
Transzendente und Noumenale seines geistigen Ursprungs
zurückgeführt werden.
Umwandlungstechnik
Selbst noch unsere negativen Regungen können in
ihren positiven Gehalt umgewandelt und so zum Mittler der
Berührung mit dem Unendlichen, Absoluten werden. Zorn kann in die
Kraft wundervollen eifrigen Dienens transformiert werden. Alle unsere
Regungen und Gedanken lassen sich in höhere Regungen und Gedanken
umformen und werden damit zur Grundlage höherer
Empfänglichkeit für die Gegenwart des Göttlichen. Ein
solcher Vorgang könnte als "Umwandlungstechnik" bezeichnet werden.
Die Technik der Transformation des Niederen in das Höhere hat ihre
eigene Form und Dimension. Wir sind so sehr daran gewöhnt, in
Begriffen von Zeit und Raum zu denken und lassen uns durch diese
Betrachtungsweise über das wahre Wesen der Dinge täuschen. Im
gleichen Augenblick, in dem wir uns über Zeit und Raum
äussern, sollte uns die Umwandlungstechnik dahin führen, dass
wir uns des Raumlosen und Zeitlosen als der wahren Wirklichkeit
entsinnen.
Auch auf den Menschen können wir diese Methode anwenden. Sobald
wir jemandem begegnen, können wir sogleich in diesem Menschen die
Gegenwart des Absoluten, des Göttlichen erkennen. Anstatt uns von
dem äusseren Eindruck, den Menschen auf uns machen, völlig
gefangennehmen zu lassen, können wir die unbedingte göttliche
Wirklichkeit, die in dieser äusseren Form verborgen ist, erschauen
lernen. Mit Hilfe dieser Technik kann uns der Anblick eines Menschen
ständig in Berührung mit dem Göttlichen in ihm bringen.
Dieses könnte man als Umwandlungsmethode auf sozialem Gebiet
bezeichnen.
Atem-Technik
Wir atmen ständig ein und aus, ununterbrochen.
So können wir mit dem Einholen des Atems den Gedanken an Gott
verknüpfen und desgleichen bei der Ausatmung. Auch ein Wort oder
ein kurzer Satz, etwas, das uns an Gott erinnert, kann mit der Ein- und
Ausatmung verbunden werden. Unwillkürlich nimmt der Atem das Wort
in sich auf und hält uns beständig im Einklang mit der
unendlichen Gegenwart und Gnade, dem Licht, der Liebe, dem Schutz, der
Kraft und Stärke Gottes.
Wort-Technik
Der Mensch ist das, womit er sich innerlich
beschäftigt. Wir können ständig bei dem Frieden, der
Freude, der Kraft und Gnade Gottes verweilen, indem wir unsere
Aufmerksamkeit und unser Erkennen immer wieder auf das Wesen des
Göttlichen lenken. Wir können dabei ein Wort oder den Namen
Gottes zu Hilfe nehmen. Grosse Heilige haben ständig das Wort
"Gott" in ihrem Inneren bewegt - oder auch mit ihren Lippen wiederholt
-und haben sich so ständig mit der Gegenwart des unendlichen
Friedens, der Freude und Schönheit Gottes, die jedem offensteht,
in Berührung und Einklang gebracht.
Assoziationstechnik
Wie können wir immerwährend mit Gott in
Verbindung bleiben? Wir können eine Assoziationstechnik zu Hilfe
nehmen. Das kleine Kind, sobald es nur irgendeine Dame erblickt, denkt
sogleich, es sei eine Mutter und redet sie entsprechend an. Ein Kind,
das von seiner Mutter ein Geschenk erhalten hat, wird an die Mutter
erinnert, sobald es das Geschenk betrachtet. Das ist
Gedankenverknüpfung, auch Assoziation genannt. Wir können
Gedankenverbindungen auch bewusst herstellen, um uns immer wieder mit
Gott in Verbindung zu setzen. Wenn wir eine schöne Blüte
sehen, können wir uns an die Schönheit Gottes erinnern; schon
ihr Vorhandensein lässt uns auf die schöpferischen
Formkräfte Gottes aufmerksam werden.
Auf diese Weise setzt uns der Anblick einer sichtbaren Schönheit
mit der unsichtbaren Schönheit des Göttlichen, die nur dem
inneren Verstehen fassbar ist, in Verbindung. Sobald wir Menschen
sehen, bringen wir sie mit dem Absoluten, dem Göttlichen, dessen
sie selbst nicht gewahr sind, in Verbindung. Alles was schön, was
friedvoll ist, was uns in Entzücken versetzt, können wir in
Gedanken mit dem Göttlichen verbinden. Edle Gedanken und
Gefühle erinnern uns an den höchsten Adel göttlicher
Vollkommenheit. Wir können viele weitere Wege finden, durch die
wir im Alltag mit Gott in Berührung kommen: wenn wir etwas Blaues
sehen, können wir es mit der Hingabe an das Göttliche in
Verbindung bringen; sehen wir etwas Rotes, denken wir an die Liebe
Gottes, die jedem Menschen erfahrbar werden kann. Sehen wir etwas
Weisses, können wir es auf Gottes Gegenwart und Reinheit beziehen.
Autofahrer-Technik
Oftmals während des Tages können wir
Meditation üben und uns in Verbindung mit dem Göttlichen
setzen. Doch besteht ausserdem die Möglichkeit, untertags
beständig einen Teil der Aufmerksamkeit auf das Göttliche
gerichtet zu halten. So wie ein Autofahrer, der mit den Mitfahrenden
spricht, sie fragt, vielleicht noch dabei raucht, den Kopf dreht und
vielleicht noch hitzig diskutiert, dennoch jederzeit die Strasse und
das Lenkrad fest im Auge hat - so können wir, während wir
unseren täglichen Aufgaben und Verpflichtungen nachgehen, stets
mit einem Teil unseres Seins dem Göttlichen verbunden sein.
So gibt es zahllose Wege, die uns Schritt um Schritt dem
Göttlichen näherbringen. In die Harmonie der höheren
Erkenntnis hineinzuwachsen, grösser zu werden in der Freude und
Schönheit des Göttlichen, in Kraft und Frieden, Liebe und
Erfüllung - darin liegt der Sinn des Lebens. Wachstum in
göttlicher Erkenntnis, der Erkenntnis der Wirklichkeit der
Wirklichkeiten, das Wachstum in der Hingabe an das, was die
Schönheit aller Schönheit und das Grösste alles Grossen,
die Essenz des Wirklichen ist, Wachstum in der inneren Reinheit - das
ist Sinn und Bedeutung des Lebens.
Die Vorstellungskraft als Hilfsmittel
auf dem geistigen Weg
Die Vorstellungskraft ist in jedem von uns
vorhanden. Nicht allein der Dichter, der Philosoph, der Künstler
verfügen über ein hohes Mass an Vorstellungskraft; die
Fähigkeit, sich etwas im Geiste vorzustellen ist in jedem Menschen
vorhanden, und er übt sie unablässig aus, indem er
ständig an dieses oder jenes denkt und es im Geiste vor sich
sieht. Das menschliche Innenleben spielt sich fast ausschliesslich auf
dieser mentalen Ebene ab; die Gedanken wandern unablässig von
einem Gegenstand zum anderen und kommen niemals zur Ruhe.
Der geistig Strebende diszipliniert diese Seite seiner Natur
völlig. Anstatt sich zum Sklaven seiner Vorstellungskraft zu
machen, beherrscht er sie als ihr Meister, benützt er sie bewusst
in seinem geistigen Entwicklungsprozess, indem er sie in den Dienst
seiner spirituellen Entfaltung stellt. Er stellt sich im Geiste das
Göttliche in den verschiedensten Ausdrucksformen und Aspekten vor
und setzt sich in Bezug zu ihm. Er stellt sich vor, wie Es vor ihm
steht, wie der Regen göttlicher Gnade auf ihn herniederfällt.
Er stellt sich vor, dass das Göttliche in Seiner grenzenlosen,
unbeschreiblichen Schönheit ihn anschaut. Er stellt sich vor, dass
die allhörende, alles aufzeichnende Intelligenz des
Göttlichen in jedem Punkt des Raumes zugegen ist. Er stellt sich
vor, dass die unendliche. unzerstörbare Kraft des Göttlichen
in jeder Körperzelle wohnt. Er stellt sich vor, dass er sich in
einem Meer der göttlichen Liebe und des Friedens befindet. Er
stellt sich vor, dass nicht Wände da sind, die das Haus einfassen,
sondern er fühlt sich von der Weite des Himmels umgeben. Alles ist
erfüllt vom strahlenden Licht des Göttlichen. Er stellt sich
vor, dass sein Herz überall ist, in jedem Laubblatt, in jedem Atom
und überall betet es an, lobpreist und verherrlicht das
Göttliche. So ist seine Vorstellungskraft unablässig um das
Göttliche zentriert, was zur Folge hat, dass die Meditation immer
interessanter und erhebender wird.
Wenn der Mensch seine Vorstellungskraft nicht in diese Bahnen lenkt,
schweift sie automatisch ab in niedere Richtungen, in
Trivialitäten oder in Bezirke, die Unglücklichsein, Schmerz,
Kummer, Sorgen verursachen und das Dunkel der Unwissenheit vertiefen.
Wenn er seine ständig wandernden Gedanken nicht diszipliniert,
wird der Mensch schwach und hilflos.
Der dem Göttlichen zugewandte Mensch nützt die gleiche
Vorstellungskraft, um auf alle nur erdenkliche Weise das Göttliche
zu sehen. So lange seine Vorstellungskraft sich mit dem Göttlichen
befasst, kommt kein anderer Gedanke auf, keine Ablenkung, kein Problem
ergreift Besitz von ihm, und die innere Beziehung zum Göttlichen
verstärkt sich. Der gewöhnliche menschliche Verstand befasst
sich mit diesem und jenem, ist Sklave vieler Dinge, ist eingefangen in
den Körper, der die Gedanken färbt und dem Geist seine Bilder
eingibt. Immer nimmt das eine oder andere Ding vom menschlichen Geist
Besitz, der hin- und herspringt, von einem Ding zum anderen, auch wenn
er noch so gebildet ist. - Im Gegensatz dazu ist der geistig
ausgerichtete Mensch immer mit innerlichen Dingen befasst, mit dem
Göttlichen. Er spricht vom Zeitlosen, Raumlosen, von der
unbegrenzbaren Freiheit, der absoluten Freude, vom unendlichen Frieden,
von der höchsten Erkenntnis. So setzt er bewusst seine
Vorstellungskraft ein, um Fortschritte auf dem geistigen Weg zu machen.
Kriterien, Widerstände und Fortschritte
auf dem Weg zur Gotterkenntnis
Wenn wir dem Licht entgegenstreben, auf dem Wege zur
Gotterkenntnis sind, werden die Kräfte des Widerstandes immer
zahlreicher und mächtiger.
Dieses ist ein ganz natürlicher Vorgang, der typisch für alle
Bestrebungen zur Höherentwicklung ist. Wenn man einmal völlig
im Licht ist, gibt es keine Gegnerschaft irgendwelcher Art mehr. Dieses
ist dann schon eine hohe Stufe der Vollkommenheit. Im anfänglichen
Stadium sind diese Widerstände für den geistig Strebenden
notwendig und können nicht vermieden werden. Und weil sie nun
einmal vorhanden sind, sollte sich der Mensch auf dem geistigen Pfad um
so mehr bemühen, auf dem Weg des Lichts und der
Aufwärtsentwicklung voranzukommen, ohne allzusehr von den
Hindernissen Kenntnis zu nehmen. Er kann sie ins Auge fassen, sie
analysieren, herausfinden, welcher Natur sie sind und sie durch
Schaffung einer positiven Gegenkraft überwinden.
Wenn ein solcher Mensch sich unablässig in den geistigen
Disziplinen übt, werden die Widerstände immer geringer; doch
lassen sie sich in den Anfangsstadien nicht vermeiden und sollten als
notwendig akzeptiert werden, um unsere Kraft, Aufrichtigkeit und
kompromisslose Hingabe an Gott zu prüfen. Wenn solche Hindernisse
auftreten, sollte man ihnen ruhig und gefasst begegnen, sie als etwas
Natürliches betrachten und versuchen, wie man am schnellsten und
besten ans Ziel gelangt.
Auch sollte man bemüht sein, diese Hindernisse auszuschalten,
indem man sich klar macht, welcher Art sie sind und was ihr Gegenteil
ist. Die Ruhelosigkeit kann durch vermehrte Ruhe und innere Stille
überwunden werden, indem man sich das im Menschen wirkende
Göttliche als unendliche Ruhe und allumfassende Stille vorstellt.
So ist in jedem Hindernis noch eine positive Seite enthalten. Man
sollte also nicht meinen, dass Widerstände auf dem geistigen Weg
sich aufgrund eigener Fehler einstellten-, sie sind vielmehr eine
notwendige Stufe auf diesem Entwicklungsweg. Es ist wie beim
Gehenlernen eines kleinen Kindes, das purzelt und purzelt, bis es
schliesslich doch stehen und gehen lernt.
Gleicherweise ergeht es dem geistig Strebenden auf seinem Weg zum
Licht. Wie im Kindheitsstadium wird er des öfteren zu Fall kommen,
bis er endlich das Erwachsenenstadium in seiner geistigspirituellen
Entwicklung erreicht hat, wo es keine Opposition und keine
Rückfälle mehr gibt.
Welcher Art sind die Widerstände und Hindernisse auf dem Weg zur
Erleuchtung? - Alle auf das Irdische bezogenen und im Irdischen
verhafteten Begrenzungen in Gedanken, Gefühlen, in der
Wahrnehmung, in der Seele und im gesamten Leben müssen
ausgeschaltet werden. Bestimmte menschliche Eigenschaften wie Zorn,
Unbeherrschtheit, Neid, menschliche Gegebenheiten wie Unwissenheit -
alles dieses sind die Begrenzungen, die überwunden und durch
positive Kräfte und Eigenschaften ersetzt werden müssen, wenn
man Fortschritte machen will. In jedem Menschen liegen die
Qualitäten eines Heiligen verborgen-, sie bedürfen allein der
Entfaltung, um aus einem geistig Strebenden einen Vollendeten zu machen.
Die Kräfte, die uns auf dem Weg nach oben zurück halten
wollen, sind allerdings oft stärker als der Zug nach vorn. Das
entspricht der Tendenz von allem in Zeit und Raum, dem Gesetz der
Schwerkraft und der der Materie anhaftenden Trägheit. Das geistige
Leben ist der Natur entgegengesetzt, es muss sich über die Natur
erheben und sich auf etwas hinbewegen, das über der Natur liegt.
Das Geführtwerden durch die Übernatur ist den
Abwärtstendenzen der Natur entgegengesetzt. Das
Übernatürliche allein ist frei von Konflikten, von
Widersprüchen und Problemen.
Das Geheimnis des Fortschritts auf dem geistigen Pfad liegt darin,
ständig in Gemeinschaft mit dem Göttlichen zu leben. Im
Allgemeinen leben die Menschen in Gesellschaft ihrer eigenen Gedanken
und Gefühle, in der Gemeinschaft mit anderen Menschen, mit guten,
weniger guten oder schlechten Menschen, in Gemeinschaft mit ihren
Wünschen und Problemen. Sie leben in ihren Beschäftigungen,
ihren Umweltsbedingungen und Verhältnissen mit all deren
Begrenzungen, mit ihrem kleinen Glück und Unglück - doch nie
mit Gott. Man sollte immerfort in Gemeinschaft mit dem Göttlichen
leben, immerfort sollte etwas in unserem innersten Wesen mit diesem
unendlichen Frieden Umgang pflegen. Immerzu sollte man Hand in Hand mit
der unendlichen Gnade, welche Gott ist, seinen Weg wandeln. Versuche
also, in beständiger Gemeinschaft mit dem Göttlichen zu
leben, auch wenn Du Dich unter Menschen bewegst, auch wenn Du Dich als
Körper unter Körpern, als Person unter Personen bewegst.
Lasse Dein Herz sich in Gemeinschaft mit dem Göttlichen bewegen!
Lasse die Verbindung mit Gott ein kennzeichnendes Merkmal Deines
täglichen Lebens sein.
Wie bringt sich geistiger Fortschritt sonst noch zum Ausdruck? Wie
weiss man, wo man steht, auf welchem Punkt der Entwicklung man sich
befindet? - Dass man Fortschritte gemacht hat, lässt sich leicht
an einem Mehr an Frieden und Willensstärke, an innerer Freude und
Furchtlosigkeit erkennen. Es gibt einen inneren Zustand, der das
Ergebnis erfolgreicher Konzentration und Verbindung mit dem
Göttlichen ist: dieser Zustand ist durch intensive Freude
gekennzeichnet. Dabei handelt es sich keinesfalls um eine blosse
Einbildung des menschlichen Gemütes. Solch ein Zustand kann zu
Beginn von nur kurzfristiger Dauer sein, doch kann er sich später
auf einen immer längeren Zeitraum ausdehnen. Andererseits jedoch
sollte man seinen geistigen Fortschritt nicht unbedingt an solchen
Erfahrungen messen, er lässt sich auch am inneren Frieden, am
Lichtreichtum, an der Heiterkeit und Stärke und am
Unterscheidungsvermögen erkennen. Als Zeichen einer
fortgeschrittenen Entwicklungsstufe gelten auch die folgenden
Kriterien: negative Gefühlsregungen verschwinden, es ist eine
klare innere Richtung und Festigkeit da, und man lässt sich nicht
mehr durch bestimmte Werte und Haltungen täuschen.
Weil geistiger Fortschritt nicht sogleich sichtbar ist, lassen sich
einige dazu verleiten, den Weg nach oben wieder aufzugeben. Das ist
sehr bedauerlich, denn es droht die Gefahr des Rückfalls auf
niedere Ebenen. - Angenommen, jemand sei schon jahrelang auf dem
geistigen Pfad und entschliesst sich dann, wieder zu leben wie die
Mehrzahl der Menschen, ohne jedoch etwas Unrechtes zu tun. Bedeutet das
schon Rückfall? Von Rückfall kann man nur sprechen, wenn
viele und oftmals die gleichen Fehler begangen werden-, sonst bleibt
der Betreffende auf der Stufe, auf der er steht und kann sich
späterhin erneut mit frischem Eifer auf den Weg machen. Allerdings
ist es weit eher möglich, die Freuden dieser Welt satt zu bekommen
als geistige Dinge, wenn man einmal mit ihnen in Berührung
gekommen ist. Letztere erweisen sich als immer neu, da immer neuere
Horizonte entdeckt und einbezogen werden können.
Wir müssen uns immer wieder das Wirken des folgenden Gesetzes vor
Augen halten: alle Taten, Worte und Gedanken ziehen eine Folge nach
sich. Was immer der Einzelne Positives im geistig-spirituellen Bereich
geschaffen hat, findet seine Auswirkung irgendwo und kehrt zu gegebener
Zeit und unter den rechten Umständen als Segen zu ihm zurück.
Der geistige Mensch in der Meditation
In der rechten Meditation wird dem geistigen, auf
Gott ausgerichteten Menschen die Gegenwart des Göttlichen bewusst.
Wie fühlt man sich vor einem glühenden Feuer? Man spürt
die ausstrahlende Wärme, die farbigen Feuerflammen. Wie lebendig
ist eine solche Erfahrung! Nicht weniger lebendig erlebt der geistige
Mensch das Göttliche als ein strahlendes, lichtes, herrliches
Feuer vor seinem inneren Auge. Die Gegenwart des Göttlichen klingt
in seinen Gedanken, seiner Unterhaltung, seinem Tun und Fühlen und
in seiner Liebe durch. Darum nütze die Zeit der Meditation, um
durch die Kraft der Konzentration zu einer solchen Erfahrung zu
gelangen.
Um die Konzentrationskraft zu entfalten, ist es für viele
nützlich, sich am Anfang auf die Flamme einer Kerze zu
konzentrieren und an nichts anderes zu denken. Der geistige Mensch
jedoch, statt eine Kerzenflamme als Gegenstand seiner Konzentration zu
wählen, konzentriert sich auf das Göttliche selbst. Immer
wieder versenkt er sich in das Wesen des Göttlichen und macht so
das Göttliche selbst zum Gegenstand seiner Konzentration und
Meditation.
Der geistige, auf Gott ausgerichtete Mensch bedarf keiner Religion, um
zu einer lebendigen Erfahrung des Göttlichen zu kommen, denn er
ist ja schon die Essenz der Religionen und besitzt das, was alle
Religionen suchen: das bewusste Erleben der göttlichen
Wirklichkeit. Ein solcher Mensch braucht kein Dogma, sondern die
dynamische Entfaltung der Qualitäten des göttlichen Geistes
in ihm. So wird er ein Beispiel geistigen Strebens. Ständig ist er
im Bewusstsein des Göttlichen verwurzelt. In seinem Innern und um
ihn herum wird er sich immer mehr einer allbarmherzigen,
allschönen, allvollkommenen göttlichen Wirklichkeit bewusst.
Immer ist er voll Freude; ist er doch und war er doch und wird er doch
immer im Herzen der göttlichen Wirklichkeit sein.
Der Gott zugewandte Mensch erreicht in seinem geistigen Streben die
verschiedenen Aspekte der wunderbaren dynamischen Allgegenwart Gottes.
Überall ist für ihn die göttliche Wirklichkeit zugegen,
mit Ihrer unendlichen Macht und Herrlichkeit und Ihrer allumfassenden
Liebe. Jederzeit und überall können für ihn alle Arten
von Wundern geschehen. Auf die verschiedenste Weise kann die zeitlose
und allvollkommene göttliche Wirklichkeit dem geistig Strebenden
Antwort auf sein Verlangen und Hilfe in seinen Nöten geben, denn
sie sieht, hört und versteht alles und inspiriert ihn mit allem,
was edel und wertvoll ist und zu wahrer Freude und andauerndem innerem
Frieden beiträgt.
Das Göttliche ist die Quelle aller Wunder. Wenn bedingungslose
Hingabe von seiten des geistig Strebenden vorhanden ist, wird er Gott
am stärksten erfahren, und sein Herz wandelt sich zum
göttlichen Herzen. Wo ein Herz voll des Göttlichen ist,
strömt reichster Segen in jeglicher Form und auf allen Gebieten,
wie Poesie, Literatur, Philosophie, Wissenschaft, Kunst und auf jede
nur denkbare Weise. Alle nur vorstellbaren Werte sind dann vorhanden
und jede Form von erhöhtem und veredeltem Leben.
In der Meditation wächst der Mensch über sich selbst hinaus.
Er wächst in tiefer, innerer Ruhe, in Gelassenheit und Weisheit,
in göttlicher Weisheit. Was ist göttliche Weisheit? Es ist
das in uns, was uns sagt: "Das Bewusstsein in mir ist zeitlos und
unsterblich, ist in alle Ewigkeit! Das ist die Göttlichkeit in
mir, das ist Macht, das ist Friede, das ist Gott, das bin ich. Ich war
vor Millionen Jahren, ich werde noch nach Millionen Jahren sein. Ich
bin in Gott, Gott ist meine Kraft und meine Stärke, meine Freude
und mein Frieden. Er ist die Vollkommenheit in mir und alles ist
wunderbar. Ich werde keiner Erfahrung des täglichen Alltags
erlauben, mich zu beherrschen, von mir Besitz zu ergreifen oder mich
vom Göttlichen abzubringen." So spricht die göttliche
Weisheit.
Das Geheimnis schnellen Fortschritts in der Meditation liegt in der
völligen Konzentration und Intensität, in der bedingungslosen
Hingabe an das Göttliche oder an jenen Aspekt des Göttlichen,
den man sich für die Meditation erwählt hat. Konzentration
allein ist nicht genug, man muss sich mit allen Fasern seines Herzens
und seiner Seele, seines Geistes und seines Bewusstseins in das
Göttliche hineinfallen lassen. Das ist die beste Meditation, in
der man völlig absorbiert ist in das Objekt seiner Verehrung, so
dass nichts weiter existiert als die Vorstellung des Einsseins mit der
Gottheit. Von solch einer Meditation geht eine ungeheure Macht und
Kraft aus, ein unsagbarer Friede, eine Freude und innere Erleuchtung.
Lasse die Intensität Deiner Hingabe ans Göttliche und das
Wissen um die Allgegenwart des Göttlichen so weit gesteigert sein,
dass die Vorstellung des "Gott-und-ich" verschwindet und allein "Gott"
bestehen bleibt. Diese geistige Übung sollte Tag um Tag wiederholt
werden, über Jahre, damit die alte, seit Millionen Jahren
bestehende Dunkelheit völlig weicht.
Um tiefe Intensität in der Meditation zu erlangen stelle Dir vor,
dass alles davon abhängt, noch in dieser Minute zur Gotterkenntnis
zu kommen. Stelle Dir vor, dass das gesamte Universum in Deinem Herzen
eingeschlossen ist und nach Gotterfahrung schreit, mit allen Fasern
sich nach Gotterfahrung sehnt.
Die höheren Aspekte der Meditation beginnen beim gegenstandslosen
Bewusstsein. Wenn wir im Meditationsraum sitzen und alles um uns und in
uns versinkt, wenn wir nicht mehr wissen, wo wir sind, wer wir sind, ob
die Welt noch existiert oder nicht, wenn kein Gedanke mehr aufsteigt,
wenn alles, was ist, vergeht, versinkt - das ist gegenstandsloses
Bewusstsein, reines Bewusstsein. Von da an beginnen die höheren
Regionen der Meditation.
Das Herz des Gott liebenden Menschen empfindet den gesamten Raum als
von dem Duft der göttlichen Gegenwart erfüllt. Er ist wie
berauscht von diesem Duft. Wunderbare göttliche Regungen erstehen
in seinem Herzen. Innerhalb dieser sichtbaren Welt erfühlt er die
unsichtbare Welt des Göttlichen. Die unsichtbare Welt der
Wirklichkeit in der Welt der sichtbaren Erscheinungen zu sehen - das
ist das Ziel des Lebens.
Wenn das Herz rein ist, wird das Unsichtbare erkennbar, wird das
Göttliche erkennbar. Überall umgibt uns das Göttliche
als eine unermessliche Kraft, als machtvolle Gegenwart, als
überwältigende Schönheit, als grenzenlose Liebe, als
unendliches Wissen, als Friede, Freude, Vollkommenheit, Gesegnetsein.
Die Welt ist erschaffen worden und wird wieder vergehen, doch das Licht
des Göttlichen war, ist, und wird immer sein, ein Licht von
unbeschreiblicher Schönheit, ein Licht, das umwandelt und das Herz
in göttliche Sphären erhebt, ein Licht, das um alles weiss,
ein Licht, das voller Liebe ist und sich dem geistigen Herzen in jeder
gewünschten Form offenbaren kann. In diesem Licht erkennt der
geistig strebende Mensch das Ebenbild des Göttlichen, in welchem
er verweilt.
Sende Gebete aus - es berührt den ganzen Kosmos in jedem seiner
Teile, weil es etwas ist, das an das unendliche Göttliche
gerichtet ist. Und dieses ist überall, in jedem Teil des
Universums zugegen. Was an das Göttliche gerichtet ist, erreicht
jeden Teil des Kosmos. - In einer so wunderbaren Wirklichkeit leben wir.
III. DER SEHENDE IN UNS
Über die Gedanken
Was ist ein Gedanke und woher kommt er? Ist er etwa
das Ergebnis eines chemischen Prozesses? Es lässt sich beweisen,
dass es jedenfalls kein elektromagnetischer Prozess ist. Auch lassen
sich Gedanken registrieren und messen, und man versucht sie zu
fotografieren. Also ein Etwas ist schon vorhanden, ein Etwas von der
Art der Schwingung, der Vibration. Nach dem Stand der heutigen
Wissenschaft ist alles, auch der feste Stoff, schwingende Energie, nur
in verschiedenen Zustandsformen. Ein Gedanke besitzt Form und Farbe,
Struktur und Gewicht und auch moralische Qualitäten.
Die Frage ist: habe ich nun selbst Gedanken oder berühre ich nur
Gedanken, die aus Gott stammen und im Universum vorhanden sind? -
Gedankenphänomene haben mit dem Individuum zu tun. Das Individuum
ist die Grundlage, die Voraussetzung. Wo ein Individuum ist, da sind
Gedanken.
Gedanken machen den Menschen aus. Es gibt keinen, der nicht Gedanken
hätte, ob er nun gelehrt oder ungelehrt ist. Jeder hat Gedanken;
die Person ist nichts als Gedanke. Der ganze Unterschied zwischen einem
geistigen und einem sonstigen Menschen besteht darin, dass der geistige
Mensch voll göttlicher Gedanken ist, beständig und
immerwährend. Der Mensch im allgemeinen ist voll nutzloser
Gedanken, die oftmals negativ oder sinnlich oder in irgendeiner Weise
niederdrückend sind, während der geistige Mensch voll
erhebender Gedanken ist. Je mehr gewöhnliche Gedanken sich ihm
aufdrängen wollen, um so mehr erfüllt er sich mit
inspirierenden, erleuchtenden, offenbarenden göttlichen Gedanken.
Kann man beständig göttliche Gedanken unterhalten, dann ist
man vom menschlichen Zustand befreit, der gekennzeichnet ist durch alle
möglichen Unvollkommenheiten und Schwächen, durch
Unglücklichsein und Friedlosigkeit. Der Unterschied also zwischen
einem grossen und einem kleinen Menschen liegt im Wesen der Gedanken.
Du bist in jenem Masse gross, als Du grosse Gedanken unterhältst.
Nutzlosen Gedanken keinen Zutritt zu gewähren und sich
ständig an höchste Gottesgedanken zu halten, ist Ziel aller
geistigen Disziplin und Erziehung, bedeutet Fortschritt und Kultur.
Beständig geht der geistige Mensch mit dem Göttlichen um,
denkt ans Göttliche, fühlt das Göttliche; das hat zur
Folge, dass später nur göttliche Gedanken aufkommen, die
schliesslich zu einem kennzeichnenden Zug der Intelligenz des
Geistesmenschen werden. Je länger Du tagsüber von
göttlichen Gedanken erfüllt bist, um so reicher und
kraftvoller wird Deine Seele, um so mehr durchgeistigt wirst Du, um so
mehr erhebst Du Dich über die Tyrannei des Körpers und der
Umstände, über den Zwang von Materie, Zeit und Raum.
Entsprechend verhält es sich bei den verschiedenen Arten der
Wahrnehmung: der physischen, der mentalen, vom Intellekt bestimmten,
und der geistigspirituellen. Die letztere gehört dem
metaphysischen Prinzip in uns an, und mit Hilfe dieser geistigen Sicht
erkennen wir den tiefsten Urgrund allen Gewahrseins: werden wir des
Göttlichen in uns gewahr. Nur mit jener Sicht können wir Gott
in uns schauen, nicht aber mit den physischen Augen. Angenommen nun,
diese geistige Sicht gehe ein in die physikalische Sichtwahrnehmung der
leiblichen Augen, dann sind wir sogar in der Lage, mit leiblichen Augen
Gott zu schauen. Gott ist über allen Gedanken und viel feiner,
viel subtiler als alle Gedanken. Er ist das Bewusstsein des
Bewusstseins in uns. Siehst Du die Gedanken in Deinem Inneren mit
leiblichen Augen? Du siehst sie mit dem mentalen Licht der inneren
Wahrnehmung.
"Der in euch ist, ist grösser als der in der Welt ist", heisst es
in 1. Joh. 4,4. Du bist also etwas anderes als Deine Gedanken, darum
bist Du in der Lage, Abstand von ihnen zu nehmen, sie zu beobachten,
sie anzunehmen oder zu verwerfen. All dies ist möglich, weil Du
mehr bist als Deine Gedanken. Dasselbe gilt auch für Deine
Gefühle, für alle Beschwerden, für alle niederziehenden
Regungen und Gefühle: der sie in Dir beobachtet, ist verschieden
von ihnen. Diese Wahrnehmung kann Dir daher auch die Herrschaft
über sie verleihen. Es ist ein Prinzip in Dir vorhanden, das Dir
Herrschaft über Gedanken, Gefühle und Umwelt verleiht, das
Dir sagt: "Hier, in diesem Teil des Körpers sitzt ein Schmerz."
Wer sagt dies? Ist jenes, was da sagt, Du hättest Schmerzen,
selbst einbezogen in diesen Schmerz? Der innere Beobachter ist
unabhängig von Deinem Schmerz und daher fähig, ihn zu
beobachten und darüber zu berichten.
Dieses ist das Grössere in Dir, das Johannes meint. Es bleibt
unbetroffen von allem, was in Dir vorgeht. Es ist nicht der Gedanke,
der in Dir aufsteigt, nicht das Gefühl, das Dich bedrängt,
sondern etwas anderes: rein und unbeeindruckt von schlechten Gedanken
und nicht betroffen vom Schmerz. - Dieses Grössere sollte man zu
erfassen suchen.
Wenn ich sage, ich selbst kann nichts tun, alles kommt vom
Göttlichen - bedeutet das dann nicht, dass auch meine Gedanken
sich vom Göttlichen herleiten?
Diese Folgerung ist nicht auf jeden Einzelnen zutreffend, sondern nur
auf den Menschen, der bereits sehr weit auf dem Weg der Gotterkenntnis
vorangeschritten ist und gar nicht mehr in der Lage ist, Niedriges,
Gemeines, Menschliches zu denken, weil er sich in einem völlig
vergeistigten Bewusstseinszustand befindet und sein ganzes Wesen in
solch weitgehendem Masse durchgeistigt ist, dass alle Gedanken und
Gefühle, die sich in ihm erheben können, göttlich sind,
das heisst: von Gott verursacht. Gott ist in seinen Gedanken und
Gefühlen, sie sind völlig vom Göttlichen erfüllt.
Dieses trifft auf einen Menschen zu, der bereits zur Gotterfahrung
gelangt ist oder auf dem Wege dorthin schon weit vorangeschritten ist.
Das göttliche Bewusstsein oder
der alles Wahrnehmende
Das ganze Leben soll aus dem Wissen um den Sehenden
in uns gelebt werden. Der "Sehende" ist nur ein anderer Name für
das Göttliche, in dem wir leben, aus dem wir hervorgegangen sind
und zu dem wir einmal zurückkehren werden. Man könnte diesen
Sehenden auch Christus oder die Wahrheit nennen. Paulus spricht von
diesem Sehenden, wenn er sagt: "In Ihm leben, bewegen wir uns und sind
wir."
Zur Gotterfahrung kann uns ein Weg von zwölf Jahren oder von sechs
Monaten oder auch von sechs Minuten führen, vorausgesetzt, wir
können die ganze Bedeutung dessen erfassen, was mit diesem
Sehenden gemeint ist, wenn wir die Entdeckung dieses Sehenden zur
Grundlage unseres Lebens machen.
Gott ist eine Wesenheit, die verehrt und geliebt sein möchte; so
will es das allgemeine religiöse Verständnis. Ihm soll man
sich völlig übergeben, Ihm soll man dienen, Tag um Tag, Jahr
um Jahr. Das ist der Weg der Hingabe. - Nun gibt es aber noch den Weg
der unmittelbaren Erkenntnis, und dieser kann für diejenigen,
für die er fassbar und gangbar ist, eine Reise zu Gott im
Überschallflugzeug sein. Auf diesem direkten Erkenntnisweg
könnte ein Gespräch zwischen dem unsterblichen Selbst, dem
Seher in uns, und dem in seinen Begrenzungen gefangenen Menschen
folgendermassen lauten:
Seher: "Was siehst Du?"
Mensch: "Ich sehe den Tisch, ich sehe dieses und jenes."
Seher: "Wer ist es, der sieht?"
Mensch: "Es ist der Sehende in mir, der alles sieht"
Seher: "Was siehst Du?"
Mensch: "Viele Dinge"
Seher: "Siehst Du auch Dich selbst?"
Mensch: "Meinen Körper kann ich sehen und andere Dinge auch; ich kann ihn sehen als ein Ding unter Dingen."
Seher: "Dann bist Du verschieden vom Körper. Siehst Du auch Gefühle und Gedanken?"
Mensch: "Ja, ich sehe auch meine Gefühle und Gedanken"
Seher: "Dann sind auch Deine Gefühle und Gedanken wie Dinge unter
anderen Dingen. Sie gehören der vergänglichen, objektiven
Welt an, die in ihrem Wesen nicht zu Dir gehört. Man kann sie
nicht mit Dir in unmittelbare Verbindung bringen."
Die Dinge, die dem äusseren Auge wahrnehmbar sind, verschwinden
einmal wieder, sie sind das Gesehene, das Objekt. Und wenn der Sehende
in Dir nicht sehen will, dann siehst Du nichts mit Deinen Augen. Der
innere Seher ist also wichtig, und dieser Seher bist Du selbst. Dieser
Seher ist grösser als Deine Seele, denn sie wird von Ihm gesehen,
gelenkt, gewandelt, emporgehoben. Auch die menschliche
Persönlichkeit, die in Begrenzungen lebt, ist diesem Seher
gegenüber ein Objekt unter Objekten.
Dieser Sehende, der Du in Dir selbst bist, ist der zeitlos Sehende, der
aller Dinge Zeuge ist und seinerseits von niemandem gesehen wird, weder
von Deinem menschlichen Bewusstsein noch von Deiner Intelligenz. Er ist
jenseits jeglicher Wahrnehmungskraft und kann nur durch sich selbst
erkannt werden. Wenn wir imstande sind, Abstand zu nehmen von dem
menschlichen Geist, der Intelligenz und allem anderen, erlangen wir die
Fähigkeit, das göttliche Selbst, der göttliche Geist,
der Sehende in uns zu werden und damit Ihn zu erkennen und zu erfahren.
Der letzte, eigentlich Sehende, Wahrnehmende, das "Ich Bin", ist mehr
als Energie, Es ist hinter aller Energie, Es ist über aller
Energie und transzendiert alle Energie. Energie ist nur eine Funktion
des "Ich Bin". Dieses ist der Zeuge, die reine Existenz, etwas, das als
ein unerklärbares Sein vorhanden ist, vergleichbar dem Raum. Es
ist leer wie der Raum, doch aus dieser Leere ist alles her-vorgegangen.
Diese Leere ist die alles enthaltende Fülle. Der Begriff der Leere
ist eine intellektuelle Abstraktion, aus der Unfähigkeit des
Verstehens aufgrund des Eindrucks geboren. Es ist die Begrenztheit
unserer Denkkraft, die zu diesem Schluss verführt; handelt es sich
doch nicht um eigentliche Leere', sondern um eine Leere, die alles in
sich enthält. Sie ist nicht leer in sich, sondern enthält das
Wissen um Vorhandensein, das Wissen "Ich Bin" - und das ist Bewusstsein.
Aus diesem Wissen erwächst die Wahrnehmung, dass etwas ins Dasein
trat - und das ist Erkenntnis. Aus dem Erkennen des Seins wächst
die Freude des Seins. Dieses Bewusstsein kennt nicht Tod und nicht
Unglücklichsein. Erkenntnis und Glück gehören innig
zusammen. In dieser Leere' sind also Erkenntnis und Glück
enthalten, und aus Erkenntnis und Glück entspringt Schönheit.
Schönheit und Glück aber bedeuten Liebe und Licht und tausend
weitere Attribute. Dieses Sein des "Ich Bin" ist das allen Gemeinsame
und darum der gemeinsame Nenner, auf den alles gebracht werden kann.
Aufgrund des Vorhandenseins dieses gemeinsamen Nenners bedeutet anderen
Glück wünschen: sich selbst Glück wünschen; anderen
schaden: sich selbst schaden.
So wie wir wissend empfinden, wir sind im Raum und vom Raum umgeben, so
können wir auch fühlen und wissen: wir befinden uns in der
göttlichen Wirklichkeit. Es geht hier um Zustände des inneren
Bewusstseins, die sich in einer Art Berührung mit der letzten
Wirklichkeit befinden. Dieser Zustand ist der Wahrnehmung
zugänglich; die Gottgegenwart kann uns spürbar und nach und
nach immer fühlbarer und wirklicher werden. Wenn Dein Inneres sehr
durchsichtig, licht und klar ist, wobei Du bei völlig wachem
Bewusstsein bleibst und Du das Gefühl hast, alles rings um Dich
und auch Du selber seiest in Deinem ganzen Wesen von einer anderen, von
einer göttlichen Gegenwart durchdrungen - dann ist die Grundlage
zur Erfahrung der Gottgegenwart gelegt.
Es gibt hier allerdings keine feststehenden Regeln, die für jeden
Menschen ein für allemal gültig wären. Es gibt sehr
verschiedene Menschen, mit sehr verschiedenen inneren Zuständen
und Gefühlsregungen. Immerhin lässt sich sagen: geistige
Erfahrung ist auf höchste Vernunftkraft gegründet, auf
starken Willen, starke Gefühle - nicht auf Abwegigkeiten,
Geistesträgheit oder Geistesstarre, nicht auf Trunkenheit oder
Trance.
Das Wesen des Sehenden
Das Wesen des Sehenden ist grenzenloses Licht. Es
ist nicht nur ungeboren, unerschaffen. unverursacht,
unvergänglich, unsterblich, unendlich, absolut, sondern sein Wesen
selbst ist Licht, und dieses Licht ist Liebe, Freude, Friede und vieles
mehr. Im Sehenden tragen wir immer das Göttliche mit uns, und das
Göttliche ist nicht nur als der Seher zugegen, sondern ist auch in
den Objekten, die vom Sehenden in uns gesehen werden. Der Sehende ist
nicht nur der letztliche Grund all unseres Sehens und Erfahrens,
sondern kann sich uns als Vater, als Mutter, als Freund oder als
kostbares Kleinod, im Sinne von Licht, Schönheit, in Erfahrung
bringen. Im Namen des Sehenden und um des Sehenden willen sollen wir
unser tägliches Leben und alle unsere Tätigkeiten verrichten.
Der Sehende ist der Erkennende, der Wissende, der Erfahrende im Bereich
der gesamten Persönlichkeit. Der Sehende ist unabhängig von
den Sinnen; er braucht die Sinne nicht, um etwas wahrzunehmen. Er sieht
unmittelbar. Der Sehende ist lediglich Zeuge allen Geschehens. der
Beobachter, der selbst unbeobachtet bleibt; der Sehende, der selbst
ungesehen bleibt; der Wissende, der selbst unerkannt bleibt.
Wenn wir die Erfahrung des All-Sehenden in uns, des höheren Selbst
gemacht haben, wird das Leben leicht, und alles spielt sich
mühelos ab. Bis dahin sind wir in Sorgen, Lasten, Problemen,
Prüfungen und Anfechtungen gefangen, wenngleich auch einige
Freuden vorhanden sind. Nach der Erfahrung des göttlichen Selbst
in uns ist unser Leben von immerwährender Freude erfüllt;
keine Schwierigkeiten ergeben sich mehr, keine Zweifel und Verwirrungen
befallen uns, keine Unwissenheit quält uns mehr, wenn wir einmal
in der Wahrheit leben.
Auf der Suche nach dem Selbst kann es geschehen, dass man jene
Wesenheit, die nach dem Tode übrigbleibt, für das Selbst
hält. Das Durchschreiten der Todespforte bedeutet jedoch nur ein
Ablegen des stofflichen Körpers und nicht zugleich die
höchste Gotterfahrung; diese ist nicht so leicht zu erlangen.
Warum ist diese Erkenntnis des göttlichen Selbst, des Sehenden in
uns, so schwer zu erlangen? - Weil das Wesen des Menschen unrein ist.
Ist die menschliche Natur erst einmal geläutert und herrscht
grosse Ruhe und Stille in ihr, dann leuchtet ein Licht im Innern des
Menschen auf, das ihn zum Göttlichen, zum höheren Selbst,
geleitet. Stetiges Nachsinnen über das Selbst, Tag um Tag, Jahr um
Jahr, Leben um Leben, führt uns der Gotterfahrung näher. Das
rein intellektuelle Erkennen mag in einer halben Minute geschehen,
sofern die nötige Intelligenz vorhanden ist; doch erst, wenn das
ganze innere Wesen umgewandelt und alle Voraussetzungen innerlich
gegeben sind, kann das Selbst zur tatsächlichen Erfahrung werden.
Erst dann lässt sich von Selbstgewahrwerdung oder
Selbstverwirklichung sprechen.
Wenn Du Dich von den Eindrücken der physischen Welt
zurückziehst, Dich nicht mit ihnen identifizierst, und Dich selbst
beobachtest, dann stellst Du fest: ich sehe einen Tisch, ich sehe ein
Buch. Ich verstehe, was ich sehe. Der Tisch ist blau, und das Buch ist
auf Seite 5 aufgeschlagen. Eine Intelligenz ist in mir am Werke und
vermittelt die Erfahrungen über Objekte der Aussenwelt vermittels
des Sehvermögens. - Wenn ich die Augen schliesse und mich von der
Welt der Erscheinungen zurückziehe, ist es die gleiche Intelligenz
in mir, die nachdenkt, zum Beispiel über die Menschen um mich
herum, oder wo dieses oder jenes zu finden ist. Immer steht eine
Intelligenz im Hintergrund und beobachtet das Bild vor dem geistigen
Auge. Im Traumzustand ist ebenfalls eine Intelligenz am Werke und der
Trauminhalt wird als in der objektiven Welt sich abspielend erfahren.
Immer ist in uns ein Beobachter, ein Reporter, eine Intelligenz, die
uns sagt: jetzt denkst du diesen Gedanken, jetzt hörst du diese
Worte und dieses ist der Sinn der Worte. Eine Intelligenz, eine Art
Grundbewusstsein ist in uns, das den Erfahrungsbereich versteht, den
Erfahrungsinhalt weiterleitet, ihm Sinn und Bedeutung zuweist, das
Erfahrene in das gesamte Gedankengebäude integriert und
entsprechende Reaktionen darauf veranlasst. - Hinter diesem
beobachtenden Prinzip in Dir, diesem Grundbewusstsein, mittels dessen
Du alles zu erfahren imstande bist, steht, dieses transzendierend, das
letzte, tiefste, innerste Bewusstsein, welches gewahr ist, dass
Gewahrsein in Dir ist. Dieses Gewahrsein des Gewahrseins - das ist der
göttliche Geist.
Empirisches und transzendentales Bewusstsein
Wenn wir von Bewusstsein' sprechen, verbinden wir
damit im Allgemeinen den Begriff des empirischen Bewusstseins, das uns
durch unsere Sinne und Denkfähigkeit die Umwelt wahrnehmen
lässt und für jedermann erfahrbar ist. Wir sind uns bewusst,
wo wir uns zur Zeit befinden, wie unsere Umwelt beschaffen ist und was
um uns herum vorgeht. Dieses ist das empirische Bewusstsein, dem jedoch
als Urgrund das göttliche Bewusstsein zugrundeliegt. Doch macht es
uns glücklich? Schenkt es uns inneren Frieden? Ist es
gekennzeichnet durch Schönheit, Erleuchtung, Unbegrenztheit oder
Vollkommenheit? Die Antwort darauf ist ein klares Nein.
Dem gegenüber steht das transzendentale Bewusstsein, das über
die Erscheinungswelt hinausgeht. Wenn wir sagen: Gott ist Bewusstsein -
dann ist damit ein anderes Bewusstsein als dieses Gewahrsein unserer
selbst und unserer Umwelt gemeint. Es ist ein absolutes Bewusstsein,
das alles empirische Gewahrsein transzendiert. Gott ist absolute
Intelligenz, absolutes Bewusstsein, absolutes Gewahrsein. Das
menschliche Bewusstsein dagegen ist begrenzt und durch mancherlei
Voraussetzungen in bestimmte Kanäle geleitet, geprägt und
geformt. Doch sind in ihm potentiell die Anlagen zur Entwicklung des
göttlichen Bewusstseins enthalten.
Gibt es Analogien, um das Wesen der transzendentalen Erfahrung zu
erhellen? Angenommen, Du bist der Meinung, dass sich die
transzendentale Erfahrung durch keine Analogie erläutern liesse,
weil es in dieser Erfahrung nur ein Einziges gibt, dann möchten
wir dazu das Beispiel des Menschen im Tiefschlaf heranziehen. Er
hört und sieht nichts, für ihn existiert nichts, und er lebt
völlig in der Erfahrung des Im-Einen-Seins. Ähnlich
verhält es sich mit der Erfahrung des Transzendenten, mit dem
Unterschied allerdings, dass hier die Erfahrung bewusst wird,
während sie im Tiefschlaf unbewusst bleibt. Es sind noch weitere
Analogien möglich: diese transzendentale Erfahrung ist intensive
Freude und ein Glück, das jede Beschreibung übersteigt. Man
müsste schon sagen, sie ist millionenfach süsser als Honig!
Liegt in dieser Art der Erfahrung nicht vielleicht eine Täuschung,
da doch keine objektive Korrelation vorhanden ist? - Das ist nicht so;
es gibt hier eine objektiv wahrnehmbare Wechselbeziehung, denn ein
Mensch mit transzendentaler Erfahrung ist von ungewöhnlicher
Weisheit und Reinheit. Ebenso ungewöhnlich sind sein innerer
Friede und sein gesamtes Wirken. Sein Leben ist von hoher
Schönheit. All das sind die äusseren Erscheinungsformen und
Entsprechungen seiner inneren Erfahrung.
Der psychologisch orientierte, nicht spirituell ausgerichtete Mensch
dagegen besitzt nicht einmal den millionensten Teil dieser
Qualitäten. In seinem Leben gibt es zahllose Widersprüche und
Täuschungen, im Gegensatz zu dem Leben des Menschen mit
transzendentaler Erfahrung, die über alle Massen schön, edel
und frei von Widersprüchen ist. Er steht über den
Umweltverhältnissen, sie berühren nicht sein wahres Sein. Er
weiss, dass sein Körper kommt und vergeht. Er ist imstande, sich
von allem Vergänglichen zu distanzieren und allein im
Göttlichen zu leben.
Schlusswort
Das Erdenleben ist ein kurzes Phänomen. Hinter
uns liegt eine Ewigkeit, und eine Ewigkeit liegt vor uns. Unser Leben
ist eine zeitgebundene, vorübergehende Episode. Es spielt keine
Rolle, ob es glücklich oder unglücklich, leicht oder
problembeladen ist. Wir sind aus Gott hervorgegangen, wir werden von
Gott erhalten, und wir kehren zu Gott zurück. Unser Weg führt
von einer Vollkommenheit zur anderen. In dieser kurzen Zeitspanne
unserer Lebensreise sollten wir soviel wie möglich bemüht
sein, das Wesen des Himmlischen Vaters in uns zu verwirklichen.
Swami Omkarananda
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